„Hamburg ist ein Gedicht, das sich ständig neu schreibt.“ Mit diesen Worten hatte Daniel Schnoedt, Initiator und Organisator des Trendforum Retail, letzte Woche zur Trendtour durch das „neue“ Hamburg geladen. Denn mit der HafenCity sind in der Hansestadt die Laufwege und damit auch der Einzelhandel neu aufgemischt worden. Die Tour hat gezeigt: Der Satz ließe sich in „Handel ist ein Gedicht, das sich ständig neu schreibt“ umschreiben.
Mit der Trendtour kamen alte und neue Läden in den Blick, Handelsgeschäfte, die sich verändert haben, und neue, die aufgrund einer völlig neuen Struktur neu gedacht wurden. Und wenn man den Internet-Handel als, wenn auch virtuellen, Standort betrachtet, dann zeigen die Beispiele, wie stationärer Handel auch vom Internet-Shopping her neu gedacht werden kann.
Und so lud die Tour zu einer Besichtigung ein, wie sich der Einzelhandel gerade neu erfindet. Sie zeigte, Ware ist mehr als nur ein Verkaufsobjekt. Ware ist ein Erlebnisfaktor. Erst mit dem Erlebnis oder mit dem erhofften Erlebnis wird die Ware zum Bedürfnis.
Die Tour durch zehn unterschiedliche Laden- und Gastronomiekonzepte kam nicht ohne die Visite im neuen Flagship Store von Thalia aus, der auch eine der Antworten zur Zukunft des Einzelhandels lieferte. Die Buchhandlung gilt neben Zara als einer der schönsten Läden in Westfield Center.
Wir berichten heute im ersten Teil von Konzepten und Eindrücken. Dazu gehört die Erkenntnis:
Stationärer Handel ist Heimatgeben
Das ging gleich mit dem Start los. Treffpunkt war das Hanseviertel an den Großen Bleichen in der Neustadt. Es ist das erste Einkaufscenter Hamburgs. Mit seinen 40.000 Quadratmetern Wohn-, Büro- und Handelsfläche ist es tatsächlich ein eigenes Viertel, das Centermanager Lars Sammann zu verwalten hat.
Das Hanseviertel mit seinen 60 Einzelhandelsflächen war immer schon das „Wohnzimmer“ der Hamburgerinnen und Hamburger und bekannt für seine Kulinarik. Das hat Sammann jetzt wiederbelebt.
Dazu gehörte auch, eine 2000-Quadratmeter-Fläche des ehemaligen Mövenpick-Restaurants im Keller wiederzubeleben. Sie war bis dahin sogar mit einem Betondeckel abgesperrt. Dort haben die Betreiber jetzt ein neues Gastronomie-Konzept umgesetzt: Le big TamTam.
Vier Top-Gastronomen aus Hamburg bieten hier auf einem kreisförmigen Grundriss kulinarische Spezialitäten an. Das – so wie die Webseite – mutig bunt und stylisch gestaltete Ambiente bietet 500 Gästen Platz, so dass diese Fläche auch für größere Events gemietet werden kann. Motto: „Mehr Tamtam für das Leben“.
Vielleicht ist das auch der Trauspruch, mit dem Gastronomie und Einzelhandel die Ehe eingehen sollten, um die Innenstadt zum Erlebnisraum werden zu lassen.
„Einkaufen ist eine Freizeitaktivität geworden“
Dass der Einzelhandel ein dritter Ort ist, bewies der Besuch im Traditionshaus Ladage & Oelke, das vor wenigen Jahren einen Neuanfang wagte. Vor 180 Jahren startete das Haus mit dem Verkauf von Stoffen für das Anfertigen von Maßanzügen.
Seitdem war das von einem Hugenotten und einem Hamburger gegründete Unternehmen eine feste Adresse am Neuen Wall. Doch die Kundschaft, die auf Maßanfertigung Wert legte, starb in den letzten Jahren so langsam weg. Selma Wegmann, Urgroßnichte des Gründers Johann Oelke, musste sich zusammen mit ihrem Mann ein neues Konzept ausdenken.
Ankerpunkt: einen Anlaufpunkt für Männer schaffen. „Herren haben wenig Anlaufpunkte. Wir wollten einen Ort schaffen, an dem Männer sich wohlfühlen können“, erläutert ihr Mann Thomas Wegmann die Strategie.
Dafür mussten sie auf eine weniger verwinkelte Fläche umziehen. Eine ausreichende Fläche auf zwei Stockwerken fanden sie am Alten Wall. Eine Traditionslinie behielten sie bei, die Ansprache der wohlsituierten Zielgruppe: Feines Tuch, Maßanfertigung, Schuhwerk oder die riesige Auswahl an Manschettenknöpfen.
Das Konzept haben sie radikal umgesetzt: Hinter den Eingangstüren im Erdgeschoss findet sich keine Ware zum Einkauf. Dort nimmt das Café „The Beautiful & the Brilliant“ den ganzen Raum ein. Hier kann man sich treffen, sich unterhalten, es entsteht Salon-Atmosphäre. Nur ganz wenige Produkte sind unten zu finden, die das Interesse wecken. Zum eigentlichen Einkauf geht man dann in den ersten Stock.
Dort findet man Konfektionsware in allen Größen, besondere Angebote, hier kann man sich einen Maßanzug fertigen lassen, nicht zuletzt gibt es auch einen Barbiertisch.
Hier können Männer mit der einen oder anderen Problemzone zu ihren Artikeln finden. Themen, mit denen sie allein vor dem Computer säßen.
„Einkaufen ist eine Freizeitaktivität geworden“, sagt Wegmann. Den Bedarfskauf gebe es so gut wie nicht mehr. Die meisten Käufe sind Impulskäufe. Wäsche, die man braucht, heißen dann „No-Thrill-Artikel“.
Die Kundin, den Kunden nicht allein lassen
Ladeninszenierung, Wareninszenierung, Wohlfühlatmosphäre: Ähnlich gelagert ist dies ein Thema für den Wäschespezialisten Mey. „Wäsche ist eines der schwierigsten Produkte, die es gibt“, sagt Storemanagerin Nicola Schaarschmidt. Mey hat die Zone unter Bluse bzw. Hemd und Rock bzw. Hose zum Modedistrikt erklärt.
Schaarschmidt erläutert, warum Beratung so wichtig ist: Hier wird in einer Zone beraten, die zur intimsten des Menschen gehört. Da fühlen sich viele allein und sind umso dankbarer, wenn sie hier auf Verständnis und gute Beratung treffen.
Dazu gehört, die richtige Atmosphäre zu schaffen. Die neue Filiale in Hamburg ist erst kürzlich auf eine etwas größere Fläche umgezogen. Weiß, Pastell- und Cremefarben, beruhigende Grüntöne verstärken den Moment, sich in einer Wohlfühlatmosphäre öffnen zu können.
Fahrrad Rose: Wenn das Internet die Leute in den Laden treibt
Dass man stationären Handel auch vom Internet her neu denken kann, beweist der Fahrradspezialist Rose. Der hat vor knapp drei Wochen auf dem Ballindamm eine neue Filiale eröffnet.
„Wir wollen Teil einer Bewegung sein“, bringt Sebastian Bomm, Chef bei Rose digital, das stationäre Konzept auf den Punkt. Was sich im Internet formiert, kumuliert sich zum Hotspot vor Ort.
Mit Booktok hat der Buchhandel ein ähnliches Phänomen, aber nicht so strategisch.
Damit definiert er den stationären Laden eigentlich vom Gedanken der Internet Community her. Rose ist ein Wandler zwischen den Welten, wechselt Spiel- und Standbein zwischen online und stationär und steht am Ende auf beiden.
Gestartet ist das Unternehmen 1907 als einfaches Fahrradgeschäft in Bocholt. Dann mauserte es sein Inhaber Erwin Rose zum Importeur von Fahrradteilen aus Japan und baute ein Katalog-Geschäft auf. In Spitzenzeiten betrug die Auflage 800.000 Exemplare. 1996 ging das Sortiment zunehmend ins Internet, bis 2014 der letzte Katalog ausgeliefert wurde.
2010 begann das Unternehmen dann seine eigenen Räder zu designen und diese über andere Händler zu vertreiben. Die hochwertigen Kreationen wurden zu Objekten individueller Anpassung, des Customizens. Mit Social Media wurden daraus Events. Dazu gehörten auch organisierte Bike-Touren.
Nach den erfolgreichen Stores in Köln und Berlin ist die Idee nun auch auf Hamburg ausgeweitet worden. Das Storedesign wurde neu gedacht: der Radladen als Community Space.
Hier werden Fahrräder zu Ausstellungsobjekten, man trifft sich an einer großen Bar, die sich gleich links vom Eingang befindet.
Die Einrichtung des Verkaufsraums ist schlicht weiß, die Räder befinden sich nicht an den Wänden, sondern werden mitten im Raum auf Podesten präsentiert. An Wänden finden sich übermenschengroße Fotos, die nicht von den Produkten, sondern von den Abenteuern auf dem Rad erzählen.
Hier spielen beratende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine zentrale Rolle. Wer will, kann das Rad seiner Begehr dann auch ausprobieren und danach bestellen. Die Testräder stehen dicht an dicht in einem eigenen Lager, aber nicht auf der Fläche.
Auch hier gilt: Die Produkte und ihre Geschichte bzw. seine Möglichkeiten gehören zusammen, das Erlebnis mit dem Produkt steht im Zentrum und weckt erst die Begehrlichkeit. Und wenn es oft auch nur der Traum vom Erlebnis ist.
Ein Grund, warum es auch so viele ungelesene Bücher in den Haushalten gibt.
Auf die Verpackung kommt es an
Auf die Erlebnisspitze getrieben war das Abendprogramm in der Patisserie Johanna, die erst seit eineinhalb Jahren in der Speicherstadt existiert. Nur wenig mehr als ein Jahr nach der Gründung erzielt sie den begehrten Schokoladenpreis.
Inka und Ralph Orth gründeten sie nach einer tragischen Flutnacht im Ahrtal. Dort verloren sie alles, was ihnen lieb und teuer war. Für einen Neuanfang gingen sie nach Hamburg und fanden ein Domizil am Sandtorkai.
Sie holten den Stuttgarter Konditormeister Marcel Reinhardt an Bord. Gemeinsam mit dem 24-Jährigen begannen sie eigene Pralinen und Torten zu kreieren und sich Vermarktungsstrategien zu überlegen.
Doch es gibt nicht nur Pralinen: Hier kann man auch herzhaft zu Abend essen. Mit besonders belegten Croissants, mit mediterranen Quiches und einigem mehr, nicht zuletzt mit einem Eis als Nachtisch, das es nirgends so cremig gibt.
Vor allem die süßen Produkte werden auch per Online-Shop verkauft und verschickt. Doch die Verpackung muss nicht nur Bruchsicherheit garantieren, sondern auch eine Ausstrahlung haben, waren sich die Kreateure schnell einig. Da kommen die Pralinen dann wie in Schmuckschächtelchen. Inka Orth: „Die eigentliche Herausforderung für ein neues Produkt ist ihre Verpackung.“
Ein Satz mit Symbolkraft. Beim Verkauf vor Ort ist die passsende Einrichtung die Verpackung. Der in braun und schwarz gehaltene Verkaufs- wie Gastraum ist so edel wie vielseitig. Hier liegen die Pralinen wie Schmuckstücke in Vitrinen. Natürlich müssen die Produkte halten, was die Verpackung verspricht und das tun sie.
Bei der Einrichtung wurde auch an Flächen für eine Show-Herstellung oder Räume für Kurse gedacht, die hier abgehalten werden können. Doch dazu kommen die Betreiber bisher noch gar nicht: Von Anbeginn an hat die Kundschaft gefördert durch die schnelle Publicity die Türen eingerannt.
Die Innenstadt als Erlebnisraum bedeutet nicht, dass dort ständig Events stattfinden müssen. Die Produkte und ihre Geschichten bzw. die Sehnsüchte, die sie ansprechen, sind es, die zu einem Erlebnis werden müssen. Der erste Teil der Storetour hat zentrale Aspekte gezeigt, wie sich Einzelhandel nicht nur neu denken, sondern auch erfolgreich umsetzen lässt.